märchen aus aller Welt
  DIE HEXE ZWIDERWURZ
 

                           


    DIE HEXE ZWIDERWURZ

Draußen im Wald, im wildesten Dickicht, wohnt die Hexe Zwiderwurz. Sie hat einen Buckel, viele häßliche Runzeln und ein paar grelle, blitzende Augen. Sie ist schon sehr alt. Aber laufen kann sie viel schneller als ein Junge. Drum taucht sie auch bald hier auf, bald dort, wo man gar nicht an sie denkt. Wo Friede und Eintracht herrschen, bleibt sie unsichtbar; aber wo Menschen miteinander streiten und zanken, erscheint sie plötzlich, und wer sie sieht, erschrickt; denn schnell berührt sie einen mit dem Zauberstab und verwandelt das netteste Antlitz in eine häßliche Fratze. Drum hütet euch, der alten Hexe zu begegnen; denn schwer ist's, von ihrem Zauberbanne sich wieder zu befreien.

Auf einer Waldlichtung in einem ärmlichen Häuschen wohnte der Köhler Jahn mit seiner Frau Marie. Die hatten sich innig lieb, und obwohl sie sich hart plagen mußten, um täglich satt zu werden, war ihr Heim immer mit Sonnenschein und Freude erfüllt.

Eines Tages aber, als sie im Wald gearbeitet hatten und sich müde auf den Heimweg machten, gab es zwischen den beiden eine kleine Meinungsverschiedenheit, über die sie sich nicht einigen konnten. Jeder wollte recht behalten, keiner nachgeben, und so entspann sich zum erstenmal ein richtiger Streit, bei dem manch häßliches, unfreundliches Wort fiel, bis sie endlich trotzig schweigend nebeneinander hergingen. Keiner wollte als erster ein versöhnendes Wort sprechen. Da erschien plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, die Hexe Zwiderwurz und sch — sch — sch — fuhr sie den beiden mit ihrem Zauberstab übers Gesicht, grinste sie mit ihren grünen Augen häßlich an und verschwand.

Erschrocken waren die beiden Köhlersleute zusammengezuckt. Sie kannten die Hexe nicht, und als sie sich verwundert ansahen, erschraken sie von neuem, jeder über das Gesicht des ändern. »Wie häßlich ist Jahn, wenn er so brummt!« dachte Marie; und Jahn dachte das gleiche von seiner Frau. Keiner wußte, daß sein eigenes Gesicht so unschön gestempelt war. So kamen sie schweigend, verdrossen heim und legten sich zu Bett, zum erstenmal ohne freundlichen Gute-Nacht-Kuß.

Und als sie ändern Tages aufstanden, hatte jeder Ekel vor dem häßlichen Gesicht des ändern und jeder dachte an seinen Groll, keiner an eine Versöhnung. Schweigend gingen sie an ihr Tagewerk; und wie schwer erschien ihnen nun die harte Arbeit! Früher hatten die Vögel so lustig dazu gezwitschert; die hörten sie nicht mehr. Und sie selbst hatten so gesungen und gelacht; nun war ihnen die Kehle vertrocknet, und sie konnten das rechte Wort nicht mehr finden. Der Sonnenschein war aus dem Häuschen gewichen, und die Kost, die früher stets so wohl schmeckte, erschien ihnen herb und schlecht. So verging Tag für Tag, Woche um Woche, und traurig dachten die beiden manchmal im stillen an die frühere Zeit, da alles voll Freude und Glück bei ihnen war. Wenn doch die Zeiten wiederkommen könnten!

Eines Abends, als Jahn noch im Holz arbeitete, saß Marie mit ihrer Arbeit traurig sinnend vor der Hütte. Da kam aus dem Wald der alte Einsiedler vom Bergspitz auf sie zu, der stets im Vorbeiweg im Köhlerhaus einkehrte, ein allezeit gern gesehener Gast, denn er war klug und gut; die Menschen erzählten von seinen Wunderkuren und daß er sogar Zauber zu lösen verstünde.

Der Alte ließ sich freundlich bei Marie nieder, die ganz gegen ihre frühere Gewohnheit mit niedergeschlagenen Augen sitzen blieb. Doch bald ging der Armen das Herz über, und sie klagte dem Freund ihr Leid. Dieser nickte väterlich mit dem Kopf und sagte: »Hab' ich mir's doch gedacht, daß hier die alte Zwiderwurz wieder Unheil angerichtet hat. Ihr Armen wißt nicht, daß euch die Hexe verzaubert hat, so daß ihr der Bäume Rauschen, der Blumen Duften und der Vögel Stimmen nicht mehr versteht und den Sonnenschein um euch nicht mehr seht; daß Unkraut über euer Herz gewachsen ist, so daß ihr euch selbst und eins das andere nicht mehr kennt. Doch hab' ich ein Mittel, den Zauber zu lösen, und will es dir geben, weil du dich danach sehnst. Morgen früh vor Tagesgrauen stehst du rasch auf und gehst, ohne dich umzusehen, aus der Tür, links hinüber zu dem Bächlem, und wäschst dir bei der alten Buche die Augen hell und klar. Dabei denke ernstlich darüber nach, durch welche Kleinigkeit die große Kluft zwischen euch entstanden ist. Erst wenn die Sonne aufgeht und mein Einsiedlerglöcklein den Tagesanbruch verkündet, dann zieh diesen kleinen Zauberspiegel aus der Tasche und besieh dir gründlich das Bild, das dir daraus entgegenblickt. Dann wird der Bann sich lösen, und alles wird sich von selbst finden.« Dabei gab er Marie eine kleine runde Scheibe.

»Was mag das für ein wundertätiges Ding sein?« dachte Marie und steckte es gehorsam in die Tasche. Der Einsiedler drückte Marie zum Abschied die Hand, und Jahn, der eben nach Hause zurückkehrte, gab ihm bei eingetretener Dunkelheit das Geleit. Ihm gab der freundliche Alte den gleichen Rat und auch einen Zauberspiegel; nur sollte Jahn rechts hinübergehen bis zu der dunklen Tanne, die an dem Bach mehr oberhalb stand.

Jahn und Marie schliefen in dieser Nacht wenig und träumten von allem, was sie gehört und was ihnen der Zauberspiegel bringen werde. Vor Tagesgrauen erhob sich Marie geräuschlos von ihrem Lager und befolgte genau die Vorschrift des alten Freundes. Gleich nach ihr schlich Jahn aus der Türe. Keiner wußte vom anderen. Jeder kniete am Rande des Bächleins und wusch sich sinnend den Schlaf aus den Augen. Erbleichend stand der Mond am Himmel und leuchtete ihnen mit mattem Schein. Das Bächlein rauschte und murmelte den beiden wieder die Worte des Einsiedlers ins Ohr, und die ganze traurige Zeit der letzten Wochen mit dem eigentlich recht geringfügigen Anfang kam ihnen ins Gedächtnis. Da ging die Sonne auf, und bim-bam klang ängstlich fragend das Glöcklein des Eremiten durch den Wald. Die beiden erhoben sich und zogen das geheimnisvolle Zauberspieglein aus der Tasche. Halb verwundert, halb neugierig sah Marie hinein. Aber vor Schreck stieß sie einen lauten Schrei aus, und das Spiegelein entfiel ihrer Hand. Ihr eigenes Bild schaute ihr daraus entgegen: häßlich, eine verzerrte Fratze!

In ihrer Angst rannte sie zurück ins Haus; aber an der Tür prallte sie mit heftigem Stoß auf Jahn, dem es ebenso ergangen war. Die beiden setzten sich in die Stube, weinten sich satt und schütteten sich gegenseitig die Herzen aus. Wie tat das ihnen wohl! Und wie nahmen sie sich vor, nun gemeinsam ihr Leid zu tragen! Aber als sie bei dem Gelöbnis sich in die Augen blickten, welches Wunder! Die Maske war verschwunden, und die bildhübsche Marie von früher stand vor Jahn und sah erstaunt in ihres Mannes treues, offenes Gesicht, das sie von jeher so lieb gehabt. Die Sonne strahlte zum kleinen Fenster herein, und lustig zwitscherten die Vögel und die Bäume flüsterten, als freuten sich alle mit über das Wunder.

 
 
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